Stolpersteine 2023
Ein Stein. Ein Name. Ein Mensch.
Am Montag, dem 26. Juni 2023, um 11:00 Uhr wurden acht „Stolpersteine“ in der Schwedter Innenstadt verlegt.
Stolpersteine für die Familie Dobschiner
Vor dem ehemaligen jüdischen Gemeindehaus, in dem der Kantor wohnte und in dem Versammlungen der Gemeinde stattfanden, wurden vier Stolpersteine für die Familie Dobschiner verlegt.
Jacob Dobschiner war mit seiner Familie 1934 nach Schwedt gekommen, weil hier die Stelle des Kantors in der jüdischen Gemeinde frei geworden war. Der Sohn Walter, 1927 geboren, ging hier zur Schule. Seine Schwester Dorothea wurde 1920 geboren und lernte das Damenschneider-Handwerk.
Die Familie der Mutter Sophie Dobschiner stammte aus der Nähe von Breslau, wo die Kinder auch geboren wurden. Jakob Dobschiner war nicht nur Kantor der Schwedter Gemeinde, er war auch Religionslehrer und Schochet, also Schächter, für Groß- und Kleinvieh und Geflügel. Seit ihrer Ankunft in Schwedt löste sich die Gemeinde immer mehr auf. Im März 1938 verloren alle jüdischen Kultusgemeinden in Deutschland ihren Status als Körperschaften des öffentlichen Rechts. Viele Gemeindemitglieder zogen nach Berlin, um in der Anonymität der Großstadt unterzutauchen.
Auch Familie Dobschiner ging vor Oktober 1938 aus Schwedt weg. Sie zog nach Breslau, wo sich die gesamte Familie von Mutter Sophie befand. Am 15. Oktober schrieb Jakob Dobschiner einen Bittbrief nach Australien an einen Rabbi Falk, der sich mit seinen Möglichkeiten für jüdische Menschen aus Europa einsetzte. Er versuchte, für Jakob eine passende Stelle in Australien zu finden.
Jakob wurde am 9. November 1938 verhaftet, in Buchenwald interniert. Nach der Entlassung hat er, da es keine schnelle Antwort aus Australien bekam, seine Beziehungen nach England aktiviert. Er war einige Jahre in London zur Schule gegangen und sprach selbstverständlich englisch. 1939 floh er nach London. Leider schaffte er es nicht, seine Familie nachzuholen.
Seine Frau, seine Tochter Dorothea und sein Sohn Walter wurden von Breslau aus am 25. November 1941 deportiert und vier Tage später in Kaunas in Litauen ermordet. Durch den Bericht von Günter Arnold, eines Mitschülers und Freundes von Walter Dobschiner, wurden wir auf das Schicksal der Familie aufmerksam.
Die Worte des Gedenkens sprach Christiane Köhler.
Stolperstein für Ruth Ascher
In der ehemaligen Berliner Straße 15 weist nichts mehr auf das beliebte Konfektionswarengeschäft der Familie Maass hin. Es stand hier bis 1945.
Bereits 1881 ließ sich die Familie Maass in Schwedt nieder. In vierter Generation übernahm Kaufmann Leo Ascher mit seiner Frau Gertrud, geb. Maass, das gutgehende Geschäft. 1924 hatten beide geheiratet und bewohnten das Haus Mittelstraße 1 gleich neben dem imposanten Geschäftshaus. 1925 wurde Tochter Ruth geboren.
Im Februar 1937 entschloss sich die Familie, in die Niederlande zu emigrieren. 1941 wohnte sie in der Beethovenstraße 156 in Amsterdam. 1939 hatte Richard Herzberg bereits das Warenhaus übernommen und leitete nun ein arisches Geschäft, wie er annoncierte.
Leo und Gertrud Ascher wurden am 25. Mai 1943 von Amsterdam in das Sammellager Westerborg deportiert und von dort in das Vernichtungslager nach Sobibor, wo sie drei Tage später ermordet wurden. Die Tochter Ruth war vom 21. August 1944 bis 3. September 1944 im Sammellager Westerbork interniert und wurde von dort in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Sie hat überlebt.
Im Dezember 1949 tauchte ihr Name auf einer Passagierliste eines Schiffes auf, das von Bremen aus Emigranten in die USA brachte. Da war Ruth 24 Jahre alt und mit dem Beruf Haushälterin aufgelistet.
2015 stellte Ruth Kaminsky gemeinsam mit ihrem Mann Günther einen Wiedergutmachungsantrag. Es ging um ihr entgangenes Erbe in Schwedt. Sie tauchte in einer Berliner Datenbank auf. Eine Kontaktaufnahme schlug bisher fehl. Kaminskys wohnten in Ontario, Kanada.
Der Stolperstein ist für die Überlebende Ruth Ascher. Vor 10 Jahren wurden an dieser Stelle Stolpersteine für ihre Eltern Leo und Gertrud Ascher, geb. Maass, sowie für ihre Oma Sophie Maass verlegt.
Die Worte des Gedenkens sprach Grit Escher.
Stolpersteine für Gertrud und Paul Gerson
Paul Gerson wurde am 9. November 1890 in Schwedt geboren und war einer von 9 Söhnen von Gustav und Rosa Gerson. Gustav, der Vater von Paul Gerson, arbeitete als Nagelschmied in Schwedt. Er hatte zusätzlich eine Altstoffhandlung und baute sein Geschäft stetig weiter aus. Er blieb auch als Rentner aktiver Geschäftsinhaber.
Die meisten der 9 Kinder zogen aus Schwedt weg, um zu lernen und Familien zu gründen. Zwei Söhne starben im Ersten Weltkrieg, vier Söhne wurden im Holocaust ermordet. Für drei dieser vier Söhne Adolf, Herrmann und Hugo Gerson haben wir 2016 Stolpersteine verlegt. Paul Gerson erhielt 2014 einen Stolperstein in der Fabrikstraße.
Dieser Stolperstein wurde 2022 schwer beschädigt. Deshalb verlegen wir heute einen neuen Stolperstein für ihn. Außerdem gedenken wir an dieser Stelle seiner Frau Gertrud ebenfalls mit einem Stolperstein.
Paul Gerson wohnte mit seiner Frau und den beiden in Schwedt geborenen Söhnen Alexander und Siegfried hier im Haus ehemals Viehmarkstraße 9. Sie zogen in den 1920er-Jahren nach Königsberg/Neumark, wurden dort Mitglieder der jüdischen Gemeinde. Dort wohnten sie am Bernikower Tor 5, das man noch auf alten Postkarten bewundern kann und heute noch existiert. Der heute polnische Ort Chojna war der letzte frei gewählte Wohnort der Familie. Am 20. Dezember 1938 wurde Paul Gerson verhaftet, in das KZ Sachsenhausen verbracht und später wieder entlassen. Am 2. April 1942 wurden Paul und Gertrud aus Königsberg abgeholt, deportiert und im Ghetto Warschau ermordet.
In Chojna werden keine Stolpersteine verlegt. Bisher lag der Stein für Paul Gerson in der Fabrikstraße an einem Wohn- und Fabrikgebäude, das ihm gehörte. Es existiert heute nicht mehr. Hier, im Haus Flinkenberg 9, wohnte die Familie zuletzt, bevor sie nach Königsberg/ Neumark umzog.
Lassen Sie uns mit dieser Verlegung der Stolpersteine dem damaligen Unrecht gedenken und die Hoffnung damit verbinden, dass zukünftige Generationen die richtigen Schlussfolgerungen aus unserer Geschichte ziehen.
Die Worte des Gedenkens sprach Thomas Büsching.
Stolperstein für Arthur Oye
Arthur Oye wurde am 16. April 1898 als Sohn des Fotografenmeisters Richard Oye geboren.
1890 heiratete Richard in Schwedt seine Frau Martha in der evangelischen Kirche. Richard Oye war eine Institution in Schwedt und Umgebung, er nutze die Neuheit Foto, um ein gutgehendes Geschäft zu etablieren. Er hatte vor allem in den Garnisonstädten reichlich Kundschaft. Es gibt nicht nur in Schwedt viele großformatige Papp-Fotos von ihm mit ideenreicher Werbung auf der Rückseite. Bereits 1902 übernahm er ein Atelier in Grünberg in Schlesien, behielt aber sein Atelier in Schwedt in der Schlossfreiheit weiterhin.
Das Ehepaar bekam zwei Mädchen, vier Söhne und zwei weitere Kinder, die kurz nach der Geburt starben. Von den vier Söhnen fielen zwei im Ersten Weltkrieg. Arthur kam schwer traumatisiert zurück. Wie die Arbeitsgruppe Stolpersteine von der Familie erfuhr, lebte Arthur in Berlin, war verheiratet und hatte zwei Kinder.
Die Tochter Dagmar Oye lebt 87-jährig in Trier. Sie kann heute leider nicht kommen. Arthurs Sohn Manfred starb in jungen Jahren.
Der Familie war bekannt, dass Arthur „wohl nicht eines natürlichen Todes gestorben ist“. Arthur Oye wurde im Januar 1939 in die Heilanstalt Berlin-Buch eingewiesen und am 22. 4. 1940 in die Anstalt Brandenburg/Havel deportiert und am gleichen Tag ermordet. Er war damit einer der mehr als 70 000 Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen, die 1940/41 in einer gesonderten Aktion ermordet wurden. Sie waren Teil der Krankenmorde, denen bis 1945 in der Zeit des Nationalsozialismus über 200 000 Menschen zum Opfer fielen. Die Sonderaktion bekam den Namen T 4, benannt nach der Adresse der Zentraldienststelle in Berlin, Tiergartenstraße 4, die diese Aktion organisierte.
Der Stein für Arthur Oye wurde im Gehweg in der vorderen Lindenallee in der Nähe der Nummer 12 verlegt. An dieser Stelle stand vor 1945 das Haus Nummer 81, gleich neben dem neuen Rathaus von Schwedt, ein imposanter Bau mit schönem Garten. Arthur wurde hier geboren. Alle Gebäude in der Schlossfreiheit wurden 1945 beschädigt und später abgerissen. Heute stehen an dieser Stelle die ersten, nach 1945 gebauten Wohnhäuser.
Es ist geplant, an dieser Stelle eine Infotafel zum Fotografen Richard Oye und seiner Familie aufzustellen, damit der Stolperstein nicht ohne Bezug dort liegt.
Die Worte des Gedenkens sprach Silvio Moritz.
Herzlichen Dank an alle Spender, die diese Verlegung möglich gemacht haben.